Biografie-orientiertes Kulturseminar mit Erwerbslosen
In Hessen leben immer mehr Menschen an der Armutsgrenze. Trotz steigender Wirtschaftsleistung wächst die Armut in unserem reichen Bundesland. Lag die Armutsquote 2010 noch bei 12,1 Prozent, ist sie laut Paritätischem Wohlfahrtsverband auf 13,7 Prozent im Jahr 2013 angestiegen. Die Gründe dafür sind vielfältig: Arbeitslosigkeit, zu kleine Renten, prekäre Selbstständigkeit, Niedriglöhne, die für ein Leben alleine oder zusammen mit Kindern, nicht ausreichen. Wer länger mit wenig Geld über die Runden kommen muss und auf staatliche Unterstützung wie Hartz IV, Sozialhilfe, Grundsicherung im Alter, Wohngeld oder Kinderzuschlag angewiesen ist, hat viel erlebt und kann einiges erzählen.
Im Rahmen eines Kulturseminars kamen im Herbst 2015 17 Menschen, die von Armut betroffen sind, in Hoechst im Odenwald zusammen und erzählten einige ihrer Geschichten und malten ihre Gesichter. Veranstaltet wurde das Seminar vom Zentrum Gesellschaftliche Verantwortung der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau in Kooperation mit der Evangelischen Kirche Kurhessen-Waldeck, Referat Wirtschaft, Arbeit, Soziales und der Katholischen Betriebsseelsorge im Bistum Mainz, Regionalstelle Darmstadt.
Lang anhaltende Arbeitslosigkeit wirkt sich in psychischer Hinsicht negativ auf die Betroffenen aus. Wenn immer wieder Bewerbungsunterlagen zurückgeschickt werden und Absagen ins Haus flattern, nagt das am Selbstbewusstsein. Das Gefühl, nutzlos und nicht erwünscht zu sein, bleibt. Erfolgserlebnisse und positive Rückmeldungen, die vorher im Berufsleben vielleicht als selbstverständlich hingenommen wurden, sind nun Mangelware. Insofern gleicht Arbeitslosigkeit in vieler Hinsicht der Situation, vor einem leeren Blatt Papier zu sitzen. Alles ist offen, nichts ist klar oder gewiss. Der Wunsch nach Veränderung und Neuanfang ist da, aber es stellt sich die schwierige Frage, wie der erste Schritt oder "Pinselstrich" gelingen kann.
Andauernde Erwerbslosigkeit ist immer ein biographischer Einschnitt, der zu verarbeiten ist. Und gleichzeitig stehen "dahinter" oft viele Geschichten. Einschneidende Erlebnisse, Frustrationen, Ablehnungserfahrungen, ungerechte Behandlung, Suchterfahrungen, Verletzungen aus der Kindheit, die sich wiederholen. Aber auch Bewältigungsstrategien, die helfen, schwierige Situationen zu überleben wie Humor, Gemeinschaftserfahrung Durchhaltevermögen oder Widerstand.
Die eigene Geschichte erzählen – Biografiearbeit
Biografiearbeit kann in dieser Situation helfen und unterstützen: die eigene Geschichte wahrzunehmen, weiterzuerzählen und ein Stück zu verarbeiten, aber auch loszulassen und Perspektiven zu wechseln. Biografiearbeit als zentraler Bestandteil des Empowerment-Konzeptes beinhaltet Interesse und Respekt für Lebensgeschichte, Eigensinn und individuelle Lebensentwürfe, mit dem Ziel,verschüttete Fähigkeiten und Ressourcen ans Licht zu holen. Mit Hilfe von biografischem Dialog können bisherige Erlebnisse benannt und aufgearbeitet werden, aber auch Stärken und Überlebensstrategien als solche gesehen und wertgeschätzt werden. Ausgehend von einem persönlichen Gegenstand erinnerten sich die Teilnehmer/innen an biographisch bedeutsame Situationen, die sie mit erlebter Erwerbslosigkeit in Verbindung brachten. Mit Hilfe der Methode des World Cafés wurden Erfahrungen erstmals gebündelt, diskutiert, zueinander in Verbindung gebracht. Anschließend wurde in Kleingruppen an eigenen Texten gearbeitet. Dabei war es uns wichtig, durch die Arbeit in der Kleingruppe Gespräche und Austausch anzuregen, gegenseitige Rückmeldungen zu ermöglichen und damit gegenseitige Prozesse der Wertschätzung und Unterstützung anzuregen.
Vom Selbstbild zum Portrait - der kreative Prozess
Malen und Gestalten ermöglichen, Erlebtes und Vergangenes, aber auch Wünsche und Visionen im Bild auszudrücken, und neue Wege zu entdecken. Dabei kann allein schon der Prozess der Gestaltung heilend wirken; in ihm lässt sich erfahren und erleben, widerspiegeln, die Erlebniswelt ausweiten oder überschaubar machen. Gewohnheiten und Eigenschaften können erfahren, Neues kann erprobt und bewusst wahrgenommen werden.
Die Portraits im Seminar sind mit Hilfe verschiedener Methoden entstanden. In einem ersten Workshop malten alle Teilnehmer/innen in einem experimentellen Verfahren nach der Methode des "blind gemalten Selbstportraits" (Udo Baer 1999). Dabei wird mit geschlossenen Augen mit einer Hand das Gesicht befühlt, während die andere Hand mit einem Stift Linien auf ein Papier zeichnet. Aus diesen Linien - die manchmal mehr und manchmal weniger wie ein Gesicht aussehen - entsteht dann nach eigenen Vorstellungen ein Bild. Die so entstandenen Bilder sind "Momentaufnahmen", oft mit persönlichem Ausdruck und für ihre Gestalter*innen bedeutsam. In einer Auswertungsrunde hatten die Teilnehmer*innen Gelegenheit, über ihr Bild und was sie damit verbinden, zu sprechen. Viele nahmen spontan dieses Bild als Portrait für die Präsentation, weil sie es so passend fanden, ließen sich aber auch auf die anderen Methoden ein.
Als Kontrast hierzu wurde in einem zweiten Workshop der Aufbau eines Gesichts erklärt und mit Bleistift und Radiergummi versucht, eine möglichst genaue Zeichnung eines Gesichtes zu erlangen. Diese Erfahrung war für viele neu und spannend. Auch hier entstanden ausdrucksvolle Zeichnungen, und auch aus diesen wurden einige spontan als Bild für die Präsentation gewählt.
Darüber hinaus hatten die Teilnehmer*innen Gelegenheit, auf Basis der vorhandenen Materialien und des Gelernten zusätzliche Portraits oder Bilder entstehen zu lassen. Hier entstanden weitere persönliche Werke mit Belistift, Öl- und Pastellkreiden, Collagen- und Naturmaterial, Aquarell- und Acrylfarbe.
Der Weg nach draußen: Die eigene Geschichte in der Öffentlichkeit
Durch die am Ende geplante Präsentation der Ergebnisse vor geladenen Gästen und Vertreter*innen der Presse wurde aus dem Selbst- und Gruppenerfahrungsseminar ein Projekt der Beteiligung. Die eigene Geschichte und das eigene Portrait in der Öffentlichkeit zu zeigen, bedeutet, sich mitzuteilen und sich zu konfrontieren. Es bedeutet zu sagen "schaut her, dies ist mir erfahren und dies wünsche ich mir". Und es kann damit eine Unterstützung sein für all die, die bisher mit ihren Erfahrungen allein blieben, als auch für die, die sich ein Bild von Erwerbslosen und Erwerbslosigkeit gemacht haben, ohne die Hintergründe zu kennen.
Dabei ist dies ein Schritt, der nicht einfach ist. Wir entschieden uns daher, unterschiedliche Möglichkeiten der Selbstpräsentation nebeneinander zuzulassen: alle Portraits und Geschichten wurden aufgehängt und ausgestellt, aber je nach Wunsch des Teilnehmers mit oder ohne Namen. Jeder konnte selbst entscheiden, ob wie viel Öffentlichkeit er oder sie "wagen" wollte, ob er seine Geschichte selbst vortragen, von einem anderen stellvertretend vortragen zu lassen oder nur zum Lesen zeigen wollte. Einige führten sogar ein Gespräch mit den Pressevertreter*innen.
Mit der Präsentation und Veröffentlichung der Broschüre wollen wir ermöglichen, dass Erwerbslose aus dem Schatten heraustreten, sich mit ihrer Geschichte an die Öffentlichkeit wagen, Missstände und erlebte Ungerechtigkeiten aufzeigen und hierfür ein offene Augen und Ohren finden. Wir waren beeindruckt von der Kreativität und Offenheit, mit der die Teilnehmer*innen diese Aufgabe meisterten und freuen uns über die ausdrucksstarken Texte und Portraits, die dabei entstanden sind.
Diese Gesichter und Geschichten können hier als pdf Datei heruntergeladen werden, sie wurden außerdem vom Zentrum Gesellschaftliche Verantwortung der EKHN als Broschüre herausgegeben und können dort bestellt werden.